Plötzlich sind alle Menschen um mich herum total islandaffin und von Vulkaninseln begeistert. Ich kann zu Island nicht so viel beitragen, das Spiel gegen Frankreich habe ich nur am Radio gehört, dieses „HU“-Ding habe ich nie gesehen. Aber ich habe im Archiv geblättert und das hier gefunden… ein Brief an den Whiskyclub vom Juni 2006, geschickt aus dem Nordatlantik. Dazu ein paar Fotos mit Wikingermotiven… 🙂
»Brief an den Whiskyclub, auf dem Nordatlantik, 20. Juni 2006.
Liebe Freunde, die Grundausrüstung für eine Fahrradtour ist übersichtlich ein Fahrrad namens Mister Sickboy Milkplus selbstverständlich, dazu mehrere Liter Wasser, ein Kompass, mehrere Kilo Landkarten, eine Kreditkarte, das Mobiltelefon, Personalausweis, ein Sack Möhrchen, zwei Kohlrabi, mehrere Packungen Kekse, Öko-Müsliriegel und ein paar gute Bücher. Zwei Satteltaschen, eine Lenkertasche, zwei Jeans, dicke Eddings, eine Sporthose, ein grüner Glückstein, Pullover, T-Shirt und ein Coolbook für Adressen und kleine Poesie. Sickboy Milkplus ist mein Fahrrad und ein nerv tötender Begleiter durch Schottland und Nordengland.«








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Leider war Sickboy bereits vor der Abfahrt in Richtung Schottland krank. Wir beabsichtigten uns im Norden Dänemarks einzuschiffen und von dort über die Inseln, Färöer, Orkney und Shetlands schließlich Schottland zu erreichen. Aber schon die pünktliche Ankunft beim Schiff wurde zum Abenteuer. 20 Kilometer vor dem Hafen riss die Kette. Der Anfang unseres gemeinsamen Urlaubs stand unter verkehrten Vorzeichen: Nicht ich saß auf meinem Fahrrad und radelte vergnügt an die Küste. Das verdammte Rad drehte den Spieß um. Griesgrämig und fluchend schob ich Sickboy zwanzig Kilometer nach Norden.
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Beleidigt und genervt stellte ich ihn ins Autodeck der Färöer-Fähre. Sein Nachbar war eine riesige Harley Davidson. Sollte er doch seine Zeit damit verbringen neben dem Meister aller Motorräder zu stehen und nicht beachtet zu werden. Vom Autodeck lief ich zehn Etagen nach oben. Auf der Suche nach meiner Kabine verlor ich mich in einem Irrgarten von Fluren und Hallen und Rezeptionen und Restaurants und Spielhöllen. Als ich schließlich die Tür meiner Kabine öffnete, fand ich dort den Besitzer der Harley Davidson. Ein Mann mit Vollbart, Drachen-, Totenkopf- und Wikinger-Tätowierungen, fliegenden Haaren. Ein Mann groß wie ein Riese mit Unterarmen wie Schiffsmasten – ich teilte meine Kabine mit einem Isländer.
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»Mist«, sagte er zur Begrüßung. »Ich meinte ich hätte die Kabine für mich allein.«
Ich schaute ihn an.
»Ja, ich dachte auch ich bin alleine«, antwortete ich. »Aber dann geht es eben auch so. Schlafe ich oben oder unten?«
»Oben.«
»Danke.«
Wir standen in der viel zu kleinen Kabine, die immer weiter schrumpfte, je mehr sich der Riese aus dem Norden bewegte. Seine Geschichte war übersichtlich. Er war aus Island nach Deutschland geflogen: Bei uns hatte er sich ein Motorrad gekauft – eben die Harley Davidson neben Mr Milkplus – und ist einmal durch Europa gefahren. Kurz vor dem Hafen war sein Chopper kaputt. Er hatte ein ganzes Stück geschoben und war dann bis zum Meer hinunter gerollt. Ich musste grinsen. Ob sein Motorrad auch Sickboy heiße. Er sagte mir einen Namen, den ich nicht wiederholen kann. Sicherlich Sickboy auf Isländisch.
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Jetzt reiste er mit der Fähre bis Färöer. In Färöer hatte er eine Nacht Aufenthalt – »denn die Leute dort leben seit Jahrhunderten davon die Reisenden nach Island zu plündern« – um dann am nächsten Tag auf das Schiff nach Island zu wechseln. Eine Reise von drei oder vier Tagen. Aber nicht so schlimm – »früher sind die Wikinger im offenen Schiff mehrere Wochen unterwegs gewesen.«
»Sind sie das?«
»Ja, natürlich.«
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Genau das schien auf dem Nordatlantik ein Standard für Handeln und Denken zu sein – Wikinger. Jeder Überlegung lag eine kurze Meditation zugrunde: Wie, wann, warum und mit welchen Ideen und welchen Witzen hätten die Wikinger ein Problem gelöst? Und ging es ihnen dabei besser oder schlechter als mir gerade – haha: sicherlich meistens schlechter, so auf dem Meer ohne Dach über dem Kopf.
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»Die einzig richtigen Wikinger leben auf Island«, referierte er mir weiter – voller Überzeugung und Wikingerstolz. »Auf den anderen Inseln sind nur Norweger, die auf dem Weg nach Island seekrank geworden sind.«
»Aha!«
»Du erkennst die Leute von den Färöer daran, dass sie alle wahnsinnig nett sind und viele Kinder haben.«
»Aha…«
»Aber sie haben keinen besonders tollen Humor. Humor ist ein Zeichen für Isländer. Wochen mit einer Hand voll anderer Kerle in einem offenen Boot auf dem Nordatlantik – das kann man nur aushalten, wenn man richtig viel Humor hat.«
»Aha??«
»Shetland ist eine Insel für Weicheier. Handel und so. Aber das ist ja sowieso schottisch. Die Orkneys sind noch einmal eine ganz andere Nummer. Das ist eine heilige Insel. Wir haben da einige Königsgräber und Heiligtümer und Steinkreise.«
»Ach so?«
»Aber die Orkneys waren schon immer zu weit weg von Island. Das sind heute alles keine richtigen Wikinger mehr. Eher Leute die auf dem Weg nach Norden falsch abgebogen sind. Ich war nie da.«
»Ach so? Aber was ist mit den Arbeitern auf den Ölplattformen?«
»Die auf den Ölplattformen«, er schaute mich zweifelnd von der Seite an. »Die auf den Ölplattformen sind alle verrückt. Wir fahren an Plattformen vorbei. Du kannst sie vom Schiff aus sehen – und Du wirst verstehen. Die Leute, die dort leben, sind völlig verrückt. Völlig verrückt.«
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Wir verbrachten gemeinsam zwei Nächte in der schrumpfenden Kabine. Geschnarcht hat er auch. Ein dröhnendes Schnarchen, ein Dröhnen wie eine Harley Davidson, die über die Vulkane Islands donnert. Ich schätze das sind so in etwa die Träume der modernen Wikinger.
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Die nächsten zwei Tage plauderte ich mir meinen Weg über das Schiff. Ich lernte die schottischen Shetlander kennen. Und die von Kinderreichtum gesegneten, netten Färöer. Ich stand auf Deck und machte Witze mit Isländern und trank Bier mit Dänen und aß mit Franzosen zu Abend. Verrückte Ölarbeiter begegneten mir nicht. Und so sehr ich auch suchte: an Bord war keiner der falsch abgebogenen Orkadier anzutreffen. Dafür versammelten sich dreimal am Tag die Bewohner aller anderen Wikingerinseln und schauten gemeinsam mit einer Unzahl von Färöerkindern Fußballweltmeisterschaft.
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Schließlich kamen wir in Thorshavn an. Ich begleitete meinen Wikinger und seine Harley Davidson zur nächsten Werkstatt. Wir tranken ein Bier, ich rannte zurück zum Schiff und wir fuhren wieder ab. Schon nächsten Tag erreichten wir Lerwick auf den Shetlands, der Kapitän hupte, die Menschen winkten. Ich stand an Deck und sah begeistert zu, wie das Schiff in den Hafen glitt. Wie ein vorläufiges Hochhaus aus buntem, lackiertem Stahl brummte es an der kleinen Stadt aus grauem Granit entlang bis zum Anlegeplatz. Neugierig schaute ich hinunter auf kleine Autos, Häuschen, Segelschiffe, Fischerboote. Am Strand lagen ein paar Robben und kratzten sich die Bäuche. Zwei oder drei Menschen standen am Kai und rauchten.
Die Mannschaft drängte mich zur Eile.
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Ich befreite Sickboy aus dem Autodeck und stellte uns vor das Stahltor des Schiffes. Ein Blick nach oben: Mehrere Etagen über uns öffnete das Schiff zunächst einen kleinen Spalt, Momente später klappte es die gesamte Rückwand mit lautem Quietschen hinunter. »Auf Wiedersehen Sickboy Milkplus!«, riefen die anderen Fahrräder. Ich schob Sickboy rüber zum Schottischen Zollbeamten und fragte nach der nächsten Werkstatt.
Thanks to MISTER “Ninty miles an hour, girl, is the speed I drive” SICKBOY!!