Zufrieden und angetrunken erreichte ich den Anleger der Aberdeenfähre im Hafen von Kirkwall auf den Orkney Inseln.
Hier war alles verlassen. Erst gegen elf Uhr plante die MV Hrossay von Shetland kommend im Hafen einzulaufen. Um etwa eine halbe Stunde später zum Festland weiterzufahren. Zwei Stunden zu früh – mein Fahrrad Sickboy und ich waren der zweite und der dritte Passagier. Passagierin Nummer eins kniete am Rand des Anlegers und richtet die Kamera auf das Wasser. Ich sah sie von der Seite – sie trug eine Trainingsjacke, Jeans, Turnschuhe. Schwarze Haare verdeckten das Gesicht.
Ich drehte mich nach rechts und links. Hinter mir eine Glastür, dahinter die Abfertigungshalle. Frauen in Uniformen erwarteten die Fahrgäste. Ich lief durch die Halle, zeigte meinen Ausweis. Die Dame legte mir ein Ticket für Raum, eines für Sickboy und einen Schlüssel für eine Vier-Personen-Kabine auf den Tresen. Sie wünschte mir eine angenehme Reise und ich begann mich zu langweilen.
Es gab einen Kaffeeautomaten, also wollte ich Kaffee. Milch. Zucker. Ich drückte die Knöpfe und das Ding fing an zu brummen. Pssscht! Das war mein Kaffee. Drei Minuten waren um, das ging zu schnell.
Sickboy wartete draußen, ich nahm ihn an die Hand. Wir liefen zusammen den Anleger raus. Ich schaute zurück und sah zwischen den Haaren ein Gesicht, das uns hinterher schaute.
Ganz hinten rauchte ich eine Zigarette. Ich schaute ins Wasser. Was hatte sie wohl fotografiert? Die Wellen? Die Fische? So läpperten sich die Minuten zu Viertelstunden.
Und sie langweilte sich auch und so kamen wir ins Gespräch. Sie sagte, sie habe lange Zeit damit verbracht die Quallen im Hafen zu fotografieren. Sie sei aus China, erzählte sie, für zwei Jahre zum Studieren in Birmingham. Eigentlich hatte sie zu Ende studiert und in Peking warteten Familie und Freunde.
» … es gibt ein oder zwei Gründe, warum ich noch ein wenig in Europa bleiben möchte …«
Ich schaute sie fragend an. Schweigen.
»Welche Gründe?«
Schweigen.
Mir fiel der Kaffeeautomat ein und ich hoffte auf weitere drei gewonnene Minuten. Ob sie einen Kaffee wolle? Sie sagte nichts, ich tippte auf Nein. Also fragte ich »Tee?« und sie verzog das Gesicht: »Chinesen trinken englischen Tee nicht so sehr gerne.«
Also los zur Kaffeemaschine. Hier warteten drei oder vier Fahrgäste mit Münzen in der Hand. Offensichtlich wollten sie ebenfalls dringend Zeit totschlagen. Gemeinsam schauten wir aufs Meer. Und, uff, da hinten der kleine Punkt war die MV Hrossay auf ihrem Weg von Shetland über Orkney nach Aberdeen.
***
Kaum war das Schiff in Sichtweite wimmelte der Hafen von Menschen. Autos organisierten sich in vier Schlangen. An den Ticketschaltern fragten die Passagiere nach Karten und Kabinenschlüsseln. Kleine Kinder rasten mit Bobbycars um Sickboy und die Chinesin herum.
Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Sie schauten den Kindern nur cool hinterher.
Ein schönes Pärchen. Was sie wohl miteinander redeten?
Mit dem Kaffee in der Hand schlenderte ich zu den beiden zurück.
Schweigen.
Und dann sagte sie unvermittelt: »… als Kind habe ich immer die Abenteuer von dem kleinen Wikingermädchen im Fernsehen gesehen. Sie hat auf einer Insel im Meer gewohnt. Sie hatte ein seltsames silbernes Kleid aus Fischhaut. Und einen kurzen Rock. Einen Helm mit Hörnern. Warme Stiefel. Sie hatte die Frisur wie ich und alle meine Cousinen – und ihre Haare hatten die Farbe wie Nepomuks Haare. Diese Farbe hatte ich noch nie gesehen, in echt, bevor ich in England war. Und sie hatte eine Freundin, deren Haare waren aus purem Gold …«
Neben uns schob sich eine Wand aus Stahl in den Hafen. Von oben winkten Menschen und wir hier unten winkten zurück. MV Hrossay hupte und Sickboy wurde unruhig.
»Hast Du die beiden getroffen. Auf den Shetlands? Auf den Orkneys?«
Schweigen.
Ein paar Autos rollten vom Schiff runter. Wenig später verschwand eine Autoschlange nach der anderen im Inneren des Schiffs.
Wir schauten zu.
Ich wollte etwas zum Abschied sagen.
Dachte nach, wusste nicht was.
»Meine Mission ist es die 13 Zeichen des Sternkreises zu finden. Deshalb bin ich mit Sickboy unterwegs.«
Schweigen.
»Es ist ein Zauber. Wenn ich alle gefunden habe, werde ich durch die Zeit reisen.
Matrosen und Hafenarbeiter gestikulierten und begannen schon wieder die Leinen loszubinden. Die halbe Stunde der MV Hrossay im Hafen der Orkneys war um.
Sie runzelte die Stirn und kratzte sich am Kinn. »Unser Vorsitzender ist ebenfalls auf der Suche nach den Zeichen. Es sind die 12 Zeichen aus einem Garten in Peking. Sie sind über die gesamte Welt verteilt, es ist eine sehr lange Suche.«
Das Schiff war vollgepackt und die Matrosen begannen die Türen zu schließen.
Mit einem Kopfnicken verabschiedete ich mich von ihr. Ihr Weg führte sie hoch über die Passagierbrücke. Sickboy und ich traten durch die große Frontklappe. Ich suchte einen Platz für Sickboy, band ihn mit Seilen fest, hob die Taschen vom Gepäckträger.
***
Über Stahltreppen suchte ich meine Kabine. Hier war der Boden voller Gepäck, die Decke kaum höher als mein Kopf, drei Betten bereits belegt. Ich reservierte mit meinen Taschen die vierte Liege und rettete mich nach oben ans Licht.
In der Bar bestellte ich Cola und blätterte im Tagebuch.
Zu meiner Überraschung suchte sie mich, rutschte neben mir auf einen Barhocker und fragte nach den Zeichen.
Was sollte ich sagen? Den Krebs hatte ich im Bed & Breakfast gefunden, den Löwen in einer kleinen italienischen Kapelle, die Jungfrau würde ich morgen auf dem Weg nach Cruden Bay besuchen.
„Maiden Stone – dazu gibt es eine uralte Sage“, erklärte ich.
Sie schaute mich fragend an und ich berichtet vom Mädchen und vom Teufel und wie er sie in einen Stein verwandelte weil sie nicht mit ihm sprach.
Dann schwiegen wir wieder.
Sie fragte mich nach meinem Zeichen und ich hob den Zeigefinger: »Steinbock, das ist der Gott Pan«.
»Was bedeutet das?«
»Es ist der Gott, der den Riesen Typhon besiegt hat«, prahlte ich und log: »Typhon kam in den Palast der Götter und hat alle im Kampf besiegt und den Palast zerstört. Nur gegen den schlauen Pan konnte er nicht gewinnen. Pan hatte den Kopf einer Ziege und kämpfte mit seinen Hörnern – er kämpfte noch, als alle anderen Götter bereits nach Ägypten geflohen waren.«
Schweigen.
Ein Paar neugierige, große Augen.
»Als der Kampf um den zerstörten Palast aussichtslos geworden war, sprang Pan in das Meer, ihm wuchs ein Fischschwanz. Damit konnte er schneller schwimmen und war unter Wasser viel wendiger als der Verfolger. Er lockte Typhon bis nach Italien. Dort lauerten ein paar andere Götter und ließen einen Stein auf das Monster fallen. Dieser Stein – das ist die Insel Sizilien. Das Monster ist noch immer unter der Insel gefangen. Aber es faucht und tobt und spuckt Lava und heiße Asche.«
Vor Begeisterung über meine eigene Geschichte war ich aufgesprungen und fuchtelte ihr mit den Händen vor dem Kopf herum.
Ich sah sie an. Die beiden Augen waren halb geschlossen.
In ihrem Kopf arbeitete offensichtlich etwas.
»Aber so sind wir Steinböcke. Auch in der ausweglosesten Situation versuchen wir noch zu gewinnen. Unser Zeichen ist der Capricorn. Vorne Ziege, hinten Fisch.«
Sie sah mich an und lächelte. Ich war platt. Augen auf, Augen zu. Sie lächelte immer noch.
»Findest Du die Situation ausweglos?«
»In einem gewissen Sinn schon, ja. Aber es ist ja nur für einen Abend.«
Sie lächelte gnädig. Allerdings nicht mehr zu mir, sondern eher zu sich selber.
»Allerdings. Man muss Geduld haben«, meinte sie. »Möchtest Du etwas trinken?«
Das war wirklich eine Überraschung. »Ja, gerne, einen Whisky.«
Sie bestellte Whisky und Saft. Trotzdem stießen wir an.
Sie hieß Qi, ich Christian. Nachname Raum. Sie Dai.
Sie starrte mich an. »Was bedeutet ›Raum‹?«
»Raum, im englischen Room. Ja, so, es gibt verschiedene Witze mit meinem Namen.«
Schweigen, Nachdenken, dann reißt sie die Augen auf: »Raum? Room? Christian Room.«
»Im deutschen benutzen wir Raum auch im Sinne von Space. Christian Space. Glad to meet you.«
Wir legten eine Pause ein. Ich nippte an meinem Whisky, sie am Saft.
Meine Augen wanderten durch die Bar.
Ich trank einen großen Schluck und konzentrierte mich auf das Fußballspiel im Fernseher. Mit der nächsten Frage war sie an der Reihe.
Wie zu erwarten sagte sie nichts. Ich blieb geduldig. Ganz Steinbock.
»Interessierst Du Dich für Fußball?«
»Ich suche die 13 Zeichen, weil ich aus Berlin vor den Fußballspielen geflohen bin. Ich bin in Schottland, weil sich hier niemand für die Weltmeisterschaft interessiert.«
Sie sah sich um, die Bar war voll. Alle schauten Fußball.
Wir legten die bekannte Pause ein und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Mein Whiskyglas war leer und ich fragte sie, ob ich noch etwas bestellen sollte. Sie meinte, wir sollten raus und gemeinsam spazierten wir an Deck. Ich rauchte, sie nicht.
***
Wir starrten in die Nacht.
»Wie funktioniert das mit den Zeichen?«, wollte sie wissen und ich beschrieb ihr den Whiskyclub, den Zauber und die Reise durch die Zeit.
»Der wichtigste Reisende in unserer Kultur ist Monkeyking … «
Ich hatte noch nie von ihm gehört.
»Er ist mit seinem Meister und drei anderen nach Indien gewandert. Sie sollten die Schriften von Buddha holen. Sie bestanden 81 Abenteuer und waren viele Jahre unterwegs…«
Wir schwiegen lange.
»Wo schläfst Du heute Nacht?«, wollte sie wissen und ich berichtete von meiner Kabine mit den Stahlwänden. Von vier Männern in vier Betten, von Gepäck, das überall in der Kabine steht. Und von einer winzigen Dusche.
Sie hatte kein Bett mehr reservieren können, obwohl sie extra früh am Hafen war. Sie würde irgendwo auf einem Sofa schlafen. Sie war genervt.
»Wenn Du mit Sickboy unterwegs bist. Wie weißt Du eigentlich, dass Du abends einen Platz zum Schlafen findest?«
»Bevor ich morgens losfahre, sage ich ein kurzes Gebet für den Heiligen Julianus und dessen Familie. Dann bitte ich ihn für die kommende Nacht ein gutes Quartier für mich vorzubereiten«, darüber hatte ich noch nie vorher mit jemandem gesprochen. »Das hat bisher immer wunderbar geklappt.«
»Warum macht man das?«
»In Italien war ein Kaufmann mit Namen Rinaldo von Asti unterwegs. Jeden Morgen bat er den Heiligen Julianus um eine gute Unterkunft für die Nacht. Doch an einem Abend überfielen ihn Räuber. Sie raubten ihm sogar die Kleider. Frierend, barfuß und halbtot erreichte er die nächste Stadt. Die Tore waren bereits geschlossen und er klopfte an eine Tür bei der Stadtmauer.«
Sie schaute mich lächelnd von der Seite an: »Und?«
»Dort wohnte eine schöne Witwe mit ihrer Dienerin. Der Liebhaber der Witwe wollte in dieser Nacht kommen, sagte aber wieder ab. So hat sie alles, was sie für ihn vorbereitet hatte, Rinaldo gegeben.«
Ich stahl ein neugieriges Lachen.
»Wirklich alles? Was hatte sie ihm alles vorbereitet?«
»Du kannst Dir sicher vorstellen, dass der Heilige Julianus sehr großzügig war.«
Sie bekam große Augen und fragte: »Großzügig? Die ganze Nacht?«
»Die ganze Nacht«, ich hatte den Verdacht, dass mir der Heilige Julianus heute diese Gunst nicht erweisen würde. »Morgens beim Sonnenaufgang ist Rinaldo gegangen und hatte den ganzen Tag gute Laune.«
Ich steckte mir eine Zigarette an, lehnte mich an die Reling und war der Meinung, sie sollte wieder sprechen. Sie sprach nicht. Lange schauten wir schweigend auf das Meer.
Sie deutete nach oben, lachte und sagte »Christian Space«. Dann fragte sie wie man in Europa betet und ich gab ihr eine kurze Beschreibung.
Ein Kommentar zu „100 Reinkarnationen 1/2“